Ich bin in Kärnten geboren und aufgewachsen. Kärnten ist ein Bundesland von Österreich. Ich betrachte mich also als Kärntner, als Österreicher und fast mit der gleichen Begeisterung als Europäer.
Aber was verstehen wir unter dem Begriff Identität? Gibt es Erfahrungen oder Erinnerungen, die die Gemeinschaften in Europa von anderen Gemeinschaften unterscheiden? Und wie könnten wir eine europäische Identität stärken?
Anthony D. Smith, Professor für Nationalismus und Ethnizität an der London School of Economics, hat darauf hingewiesen, dass Menschen mehr als eine Identität haben. In der Menschheitsgeschichte gab es eine Expansion der Identifikation. In den einfachsten und frühesten Gesellschaften waren die Anzahl und der Umfang der Identitäten begrenzt. Dann begannen die Menschen, sich in komplexeren Agrargesellschaften zu organisieren, womit die Anzahl und der Umfang der Identitäten zunahmen. Wo früher das Geschlecht, das Alter und der Klan die Identität bestimmt hatten, gab es nun Dorfgemeinschaften, Regionen und sogar Imperien.
In der modernen Ära des Industriekapitalismus und der Bürokratie nahmen die Anzahl und der Umfang der Identitäten erneut zu. Heutzutage sind Nationen und die nationale Identifikation dominant. Identifikation ist situativ. Der Mensch hat mehrere Identifikationen und wechselt gerne zwischen ihnen, je nachdem, was die Situation erfordert. Um eine Identität aufzubauen, braucht man jedoch Erinnerungen und Erfahrungen, und das führt zur zweiten Frage:
Gibt es Erfahrungen und/oder Erinnerungen, die die Gemeinschaften in Europa von anderen Gemeinschaften unterscheiden?
Leider kann man diese Frage nicht vollständig beantworten. Es gibt gemeinsame Erinnerungen, Traditionen, Mythen, Symbole und Werte, aber sie haben für die verschiedenen Gemeinschaften unterschiedliche Bedeutungen und Wichtigkeit. Das römische Erbe ist ein solches Beispiel, denn es hat bestimmte Gebiete stärker durchdrungen als andere. Das Christentum umfasste den größten Teil des Kontinents, spaltete sich aber andererseits schon sehr früh in verschiedene kulturelle und ethnische Traditionen auf.
Aber es gibt auch gemeinsame Traditionen innerhalb Europas. Smith zählt das römische Recht, die politische Demokratie, die parlamentarischen Institutionen, die jüdisch-christliche Ethik und das kulturelle Erbe der Renaissance wie Humanismus, Rationalismus und Empirismus zu diesen gemeinsamen Traditionen.
Wie können wir die Identifikation innerhalb der Europäischen Union verstärken?
Smith wies darauf hin, dass wir die Macht der nationalen Massenbildungssysteme nicht vergessen sollten. Geschichtsbücher präsentieren etwa oft eine sehr nationale Sichtweise. Dies sollte sich zu einer stärker europäisch geprägten Sichtweise ändern. Auch die Massenmedien spielen eine wichtige Rolle. Ziel sollte es also sein, die Medien zu unterstützen, wenn sie mehr über europäische Themen berichten. Nicht zuletzt beeinflusst auch die Kultur die Identität. Die wachsende Zahl der europäischen Musik- und Kunstfestivals ist ein positives Beispiel. Es bleibt zu hoffen, dass sich alle Nationalstaaten der Europäischen Union auf die gemeinsamen Traditionen besinnen und ihre Unterschiede überwinden.
Quelle:
International Affairs (Royal Institute of International Affairs 1944-), Vol. 68, No. 1 (Jan., 1992), pp. 55-76. In: http://www.jstor.org/stable/2620461